Juni zweitausendblablabla.
Ich habe mich entschieden. Ja, ich werde eine furiose Karriere als Kleinkünstler hinlegen. Als erstes brauche ich natürlich ein Programm, welches die Veranstalter und Agenturen geradezu danach lechzen lassen wird, mich engagieren zu mü-, äh… dürfen. Doch wer sollte mich in dieser Kleinstadt, welche ich aus purem Selbstschutz nicht beim Namen, sondern schlicht „Stinkytown“ nenne, engagieren wollen? Hier fehlt es an vielem, vor allem aber an einer ausreichend großen Kleinkunstszene, die mir als Bühne dienen könnte.
Also brauche ich erstens ein Programm und aller erstens einen neuen Wohnsitz, eine Homebase, den einen Punkt, von dem aus ich mit Kleinkunst die Welt erobern kann,
am besten in einer der pulsierenden Großstädte, Leipzig zum Beispiel, mit Kneipenmeilen, Clubs und Off-Theatern, in denen sich die Student:innen nicht nur vom anstrengenden Uni-Alltag erholen, sondern auch kulturell weiterbilden können und vor allem wollen.
Student:innen gibt’s in Stinkytown nämlich auch nicht… nicht mehr, aber das ist eine andere Geschichte.
Noch bevor ich überhaupt in die Verlegenheit komme, an der Aufstellung einer simplen To-Do-Liste scheitern zu können, stolpere ich über ein schier unüberwindbar scheinendes Problem:
So ein Umzug kostet Geld. Und nicht mal wenig!
Alte Wohnung renovieren, neue finden, 2 Monatsmieten Kaution hinterlegen, die von der alten Wohnung ewig nicht zurückbekommen, Möbeltransporter und Umzugshelfer bezahlen…
Ich brauche nicht mal auf mein Konto oder in meine Geldbörse zu schauen, um zu wissen, da ist nichts. Auf dem Konto sogar weniger als nichts.
Ungefähr 1 Jahr, 6 Monate und 26 Tage zuvor werde ich arbeitslos. Wie es dazu kam, erzähle ich eventuell an anderer Stelle und vermutlich auch nur, wenn ich ausreichend getrunken habe und mich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern kann. Also heute dann eher nicht. Zwinkersmiley!
Ja, es mag extrem unglaubwürdig klingen, aber mein Job als Techniker an einer Kleinkunstbühne hat mich wirklich nicht befähigt, größere Rücklagen zu bilden oder in Aktien zu investieren, die ich profitmaximierend veräußern könnte. Was (erneut) einen Besuch beim Arbeitsamt erforderlich macht.

Anmeldung, warten.
Datenaufnahme /-abgleich, warten.

Mehrere Formulare und Informationsbroschüren
„Wie Sie das Arbeitsamt möglichst nicht mit komplizierten Fragen und zusätzlicher Arbeit nerven“
später.
Ich sitze ich im Büro einer Dame, die zumindest wissen will, was ich denn beruflich zu tun gedenke, bevor sie mich bis ans Ende aller Tage in die Sklaverei verkauft.
Ganz wider meine Natur habe ich mir darüber tatsächlich schon Gedanken gemacht.
Irgendwas mit Schauspiel und Musik machen wäre ja schon ein bisschen cool, aber meine Fähigkeiten und die daraus resultierenden Erfolgsaussichten schätze ich dann doch nicht so hoch ein, als dass ich diese Idee auch nur im stillen Kämmerlein auszusprechen wagen würde.
Zum Glück kann ich ja eine Videokamera richtig rum halten, dabei so tun, als hätte ich von Musikkomposition mehr Ahnung als ein Klingeltongenerator und mit der Fähigkeit, die Namen einschlägiger Videoschnittprogramme korrekt aussprechen zu können, mit der kann ich auch glänzen. Yaaay…
Zu blöd nur, dass niemand mich aufhält, als ich den Mund öffne um zu sagen:
„Ich will mich selbstständig machen.“
„Sie wollen WAS?“
„Mich selbstständig machen! Da kann man doch so… Fördergeld bei Ihnen beantragen, oder?“
„Als was wollen Sie sich denn selbstständig machen?!“
„Ja, also, ich mach da dann so Videos und Musik für Theater… also, wenn die sowas für ihre Stücke… äh, brauchen und…so… vielleicht?“
„Ich meinte: Wie heißt denn die Tätigkeit, die Sie ausüben wollen.“
„Die Tätigkeit? Äh, ja… also die ist mit Video und Musik… ähm…“
„Den Beruf! Nennen Sie mir den Beruuuuuf!“
Ach so, sie will wissen, was für ein Beruf das ist! Hm, weiß ich nicht. Keine Ahnung, wie man das nennt. Immerhin habe ich aber eine Ahnung, dass ich hier ohne eine überzeugend klingende Berufsbezeichnung nicht weiterkomme.
Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Soll ich „Künstler“ sagen? Das erscheint mir jedenfalls so nah an der Wahrheit zu sein, wie nur irgend möglich. Soll niemand sagen, ich hätte gelogen!
Frau Sachbearbeiterin scheint die Antwort zu ahnen und ich meine ein subtiles Kopfschütteln ihrerseits zu sehen. Eventuell ist „Künstler“ zu allgemein und daher nicht erfolgversprechend und schon gar nicht einer finanziellen Förderung würdig…
Mein Kopf fängt an zu rauchen und hastig überlege ich, wie ich ihr verkaufen kann, dass…
Ha, das ist es! Ich muss ihr verständlich machen, dass ich was verkaufen will!
„Der Beruf nennt sich Videokünstler und Komponist!“, platzt es aus mir raus bevor ich bemerke, dass das nur so mittel danach klingt, als wollte ich was verkaufen.
„Wie bitte?“
„Der Beruf nennt sich WIEDEEOKÜNSTLÄRR und KOM-PO-NIST!“
„Und… was machen Sie da so?“


Äh… Habe ich ihr das nicht eben schon zu erklären versucht? An ihren Tippbewegungen erkenne ich aber, dass sie nur ihrer Eingabemaske am Computer folgt, die eben als erstes eine Berufsbezeichnung verlangt und dann erst das Feld für die Tätigkeitsbeschreibung vorsieht.
Nachdem wir uns durch ihre träge Softwareoberfläche und einen ellenlangen Fragebogen über meine fachlichen Fähigkeiten gequält haben, händigt sie mir diverse Antragsformulare und ja, noch mehr Broschüren aus.
„So, das ist der Antrag auf Gewährung eines Existenzgründerzuschusses, die dazugehörigen Anlagen, Informationen über die Existenzgründerseminare. Die Anträge müssen bis zum soundsovielten vollständig vorliegen. Außerdem brauchen wir von Ihnen eine Rentabilitätsvorschau. Noch Fragen?“
„Rentabiliti-was?“
„Eine Rentabilitätsvorschau. Ihre Einnahmen, Ausgaben, Betriebsvermögen, Personalkosten. Ohne Rentabilitätsvorschau können wir jedenfalls keinen Zuschuss gewähren.“
„OK… und was für Seminare?“
„ÄH-XIS-TENZ-GRÜNDERSEE-MIE-NAAARE! Buchhaltung, Steuerrecht, Vertragsrecht usw. Sie wollen ja eine Firma gründen!“
„Nein?!“, denke ich, sage aber stattdessen „OK“, obwohl ich natürlich keine „Firma“ gründen will. Ich will doch nur als Künstler arbeiten! Aber wer bin ich, ihr zu widersprechen? Immerhin könnte SIE ja die Person sein, die das Geld bewilligt. Oder eben… nicht bewilligt.

Fortsetzung folgt…
© 2019-2020 albert sadebeck
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