previously on AAAAAAARRRGH!
„Am 2.9.1996 beginnt mein Zivildienst. Das war das, wozu Mann gezwungen wurde, wenn Mann keinen Bock hatte, zuhause Krieg zu spielen und deshalb vielleicht irgendwann mal in einen solchen geschickt zu werden.“
„Jedenfalls steht in meinem tollen EinberufungsbefehlsBescheidDienstbeginnDokument, ich solle mich am 2.9.1996 bis spätestens 15 Uhr in der Dienststelle einfinden. Ich bin natürlich der Meinung, dass ich mit 14:15 (oder 14:30, genau weiß ich das nicht mehr) massiv zu früh erscheine.“
„Frau Schreibtisch in der Gemeindeverwaltung Dorf-in-der-Nähe-von-Stinkytown sieht das (…) anders als ich und merkt sichtlich mies gelaunt an, ich hätte mich schon vor ein paar Wochen mal melden (…) sollen.“
„Einen Tag später hat Frau Schreibtisch (…) ein längeres Telefonat mit dem Bundesamt für den Zivildienst geführt, welches am Ende einfach nur „Dann geemse dem Mann halt unbezahlt frei, und gut!“ sagte. Darüber hinaus wurde mir eröffnet, dass ich nach dem Lehrgang in der Zivildienstschule, zu dem ich in der kommenden Woche muss, an eine andere Dienststelle versetzt werde.“
and now… the continuation!
AAAAAAARRRGH! – Teil 3
Zwei Wochen später melde ich mich kurz vor sieben in meiner neuen Dienststelle, einem Alters- und Pflegeheim.
Dieses Pflegeheim ist mir nicht unbekannt. Als in den Wirren des sich anbahnenden Mauerfalls 1989 auch viele Pflegekräfte das Land verlassen, wird unter vielen anderen auch meine damalige Klasse gefragt, ob ein paar von uns nach Schulschluss in den hoffnungslos unterbesetzten Altersheimen aushelfen könnten.
„Nichts Anspruchsvolles, das machen die Pflegerinnen. Ihr helft beim Essen reichen, einfache Reinigungsarbeiten, sowas halt.“
Das sagt man uns. Die Realität sieht etwas anders aus.
Als ich mich, wie abgesprochen, als fünfzehnjähriger Bengel gegen halb sechs auf der Station im fünften Stock melde, begrüßt mich eine irritierend attraktive Schwester. „Schwester“, „Pflegerin“? Zu diesem Zeitpunkt weiß ich weder was die korrekte Anrede ist noch was auf ihrem Namensschild steht. Ich bitte zu beachten, ich bin da gerade erst fünfzehn Jahre alt. FÜNFZEHN! Wie soll ich mich denn da auf den Text auf einem winzigen Schild konzentrieren? Schwester… Inge… Ja, ich nenne sie jetzt einfach „Inge“, einfach nur, um einen möglichst unattraktiven Namen zu nehmen. Quasi als Ersatz für eine kalte Dusche.
Schwester Inge trägt nämlich unter ihrem Oberteil… nichts! Das überfordert mein unerfahrenes Hirn mit plötzlicher Pubertät.
Bevor es jedoch peinlich wird oder ich bemerke, dass es längst peinlich ist, lenkt mich Schwester Inge mit Arbeit ab.
Nein, das halte ich nicht durch. Ich kann sie nicht mit weiter mit einem Namen belegen, den ich furchtbar finde. Dazu habe ich Schwester… Marlene (!) in zu positiver Erinnerung.
Schwester Marlene führt mich also kurz über die Station, während sie überall nach dem Rechten schaut und wir betreten ein Zimmer, das besonders spärlich beleuchtet ist. In einem typischen Krankenhausbett liegt Martha. Fast könnte man meinen, sie schliefe gleich ein. Und ihr langsames, dünnes Atmen verrät eigentlich schon, was Schwester Marlene mir schonend beizubringen sucht, nachdem wir das Zimmer wieder verlassen haben.
„Ich will Dich nicht erschrecken, aber unsere Martha wird eventuell nach dem Abendessen… eingeschlafen sein. Ihr Schüler sollt das eigentlich nicht machen, aber es ist sonst niemand da. Du müsstest mir eventuell also nachher helfen, sie runterzubringen.“
„Runter?“, frage ich in meiner Teenager-Naivität.
„In den Kühlraum.“, sagt Schwester Marlene mit einer Ruhe, die aus heutiger Sicht unglaublich beeindruckend ist für eine junge Frau, die selbst kaum älter als Anfang zwanzig sein kann.
Es ist Essenszeit und ich helfe verschiedenen Ommas und Oppas, ihre Leberwurstbemmchen nicht auf ihren Klamotten zu verteilen. Einige von ihnen verstehen nicht, wer ich bin und was ich hier mache, andere freuen sich einfach, Gesellschaft zu ihren Schnittchen mit Tee zu haben.
Ich habe keine Ahnung, wie lange das so geht oder was ich nach dem Abendessen noch gemacht habe, vermutlich nur mit abgeräumt, Geschirr von A nach B geschoben, sowas halt. Doch kurz bevor meine kleine Schicht als „Wenn schon keine Hilfe, dann hoffentlich nicht ständig im Weg“-Pubertant endet, spricht mich Schwester Marlene ganz ruhig an.
„Martha ist jetzt eingeschlafen.“
„Ok, also leise sein, falls ich nochmal in ihr Zimmer soll.“, denke ich.
Schwester Marlene schaut mich ruhig an und sieht, dass ich noch nicht verstanden habe. Sie weiß auch, es eilt nicht. Ich sehe sie an. Ihre sanften Augen mildern die Schwere, ohne ihren Ernst zu verschleiern.
„Es ist so weit.“, sagt sie. Und geduldig wartet sie, während sich auf meinem Gesicht die langsam dämmernde Erkenntnis abzuzeichnen beginnt.
So muss sich das Balancieren auf einem Drahtseil anfühlen, wenn man Höhenangst hat. Zum zweiten Mal an diesem Abend bin ich hoffnungslos überfordert. Ich kannte Martha gar nicht, nicht einmal gesprochen habe ich mit ihr. Den Tod, nun gut, den kannte ich schon, aber aus einer sich sicher anfühlenden Distanz. Und nun bin ich dem Sterben plötzlich so nah. Während ich einen Geschirrwagen an ihrer Tür vorbeischiebe, schläft Martha ein. Für immer. Fast ist es so, als verstünde ich in diesem Augenblick dessen unendliche Tiefe. Und doch warten unerbittlich die technischen Notwendigkeiten, die zwangsläufig folgen.
Schwester Marlene sieht mich an und ich weiß, sie versteht jede Gedanken und jede Regungen, die mich gerade erfüllen, ausfüllen, mich zu ertränken drohen.
Sie hat Martha bereits zugedeckt, doch bei den nun folgenden Schritten braucht sie schlichtweg meine physische Hilfe.
Ich weiß nicht mehr, was wir alles gemacht haben, bis wir aus dem Kühlraum zurückkommen. Woran ich mich aber sehr gut erinnere, das ist diese unglaubliche Sanftheit, Ruhe und Stärke, mit der Schwester Marlene mich mental durch diesen Abend im Herbst 1989 getragen hat.
16. September 1996, ich bin selbst Anfang zwanzig und betrete wieder ein Alten-/Pflegeheim. Von Stärke allerdings…
…erstmal keine Spur.


Fortsetzung folgt…
© 2021 albert sadebeck
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