previously on AAAAAAARRRGH!
„…Zivildienst…“
„Frau Personalchefin nimmt mir die schöne Bescheinigung mit der gleichen ‚So so, Rückenschmerzen! Ich glaube Dir kein Wort!“‘-Bewegung aus der Hand, mit der Frau Dr. Doktor sie mir in die Hand drückte.“
„Dienstfähig mit Einschränkungen, was soll’nn das heißen?“
„Wenn’se nich‘ arbeiten könnn…“ (sie meint „wollen“), dann gehn’se zu Ihrorr Hausärztin und lassen sich richtig krankschrei’m!“
and now… the continuation!
AAAAAAARRRGH! – Teil 6
Das aus heutiger Sicht wie Mittelalter anmutende Jahr 1996 lässt mir keine Wahl, ich muss zu Fuß zurück zu Frau Dr. Doktor, wogegen mein Rücken mit jedem Schritt heftiger protestiert. Die Armee des Schmerzes verfolgt indes eine fiese Expansionsstrategie, hat sie doch inzwischen linken Oberschenkel und das darunter liegende Knie besetzt. Jetzt könnte man denken, mehr Fläche, verteilt sich der Schmerz besser. Nehee, macht er nich‘?! Was auch immer da vorgeht, mehr Schmerzgebiet bedeutet auch mehr…
Moment! Wäre das nicht ein geiler Buchtitel?
Schmerzgebiete
Keine Ahnung, ist aber hiermit reserviert. Könnta nich hamm, is meene, Finger weg!
Das Wartezimmer ist nicht interessanter geworden. Noch immer dieselbe Slow-Lobotomie durch das beste, schnellste, lauteste und nervigste Radio, noch immer deklamieren Ommas die Krankengeschichte „vonn dorr Elfrieeede!“, die eigentlich unter die ärztliche Schweigepflicht fiele, noch immer riecht es wie an einem sorgsam desinfizierten Arbeitsplatz des Jahres 2020.
Weitere 80 Stunden später vernehme ich das kälteste „Herr Saaadebeck…!“, das Frau Dr. Doktor zu produzieren im Stande ist.
Natürlich glaubt sie mir erstmal nicht, dass die da im Pflegeheim keine Schreibtisch-Schonplatz-RückenInRuheLass-Arbeit für mich haben. Ein bisschen kann ich auch verstehen, dass ihr das nicht schmeckt. So ein Zivi darf sich zwar in einer normalen Arztpraxis behandeln lassen und muss nicht wie ein Grundwehrdienstleistender zu einem Arzt der Bundeswehr, für sie bedeutet das aber, dass sie ihre Dienstunfähigkeitsbescheinigung melden muss. Und nun soll sie ihre ursprüngliche Meldung zurückziehen und eine neue machen? Womöglich eine Fehleinschätzung zugeben?!
Ganz so schlimm ist es sicher nicht, denn ihre Meldung von vorhin hat die Praxis von Frau Dr. Doktor noch nicht verlassen. No Email, no Internet, no nothing, remember? Die Briefe sind also noch nicht zur Post. Jetzt ist sie wohl vor allem davon genervt, dass sie mir ihre „Ich schreib Dich nicht krank, weil ich Dich bestrafen will!“-Lektion nicht so erteilen kann, wie sie das gerne hättete. Ja, hättete.
Sie telefoniert mit Frau Personalchefin, um sich zu vergewissern, dass ich ihr da keinen Unfug erzähle, während ich merke, dass so ein paar Stunden in einer Welt des Dauervorwurfs die Schmerzintensität nicht gerade verringern.
Eine halbe Stunde später laufe ich das zweite Mal zur Heimverwaltung, um die Bescheinigung mit dem Eintrag „Dienstunfähig bis:“ abzugeben. Außerdem im Gepäck: Eine Überweisung in eine orthopädische Praxis, die ich mir aber nicht aussuchen darf. Offensichtlich sagen die Bestimmungen, dass Frau Dr. Doktor festlegen kann, wohin ich da muss. Das muss dieses selbstbestimmte Leben sein, für das ich ’89 auf die Straße gegangen bin. (Jahaa, ich war mit 15 bei Demos, das stihimmt!)
Sie schickt mich also zum allseits beliebten Herrn Dr. Rücken. Ja, auch Ärzte haben so ihren Ruf, der ihnen vorauseilt und dieser hier… Sagen wir, er ist eher als Mechaniker bekannt denn als Arzt, der einen freundlichen Umgang mit seinen Patient:innen zu pflegen gewillt ist. Dieser Typ Mechaniker, der nach einem Blick unters Auto sagt „Das hättch ihm glei saang gönn, das mussor ganz annorschte mach’n.“ und dann abwinken. Und auch hier wieder dasselbe Spiel wie bei Frau Dr. Doktor: Junger Mann, Anfang 20, mit Rückenschmerzen?! Das kann gar nicht sein!
„Na, dann machn’se sich ma frei und legen sich da hin!“, sagt er und deutet auf die Liege im Behandlungsraum. Ich liege da also, während irgendwelche überdimensionalen Schraubzwingen um meine Lendenwirbel herum auf und wieder zu gehen, sich dabei aber auch in Walzen und wieder zurück verwandeln und ich denke: „Ah,Schmerz. Schön, wenn er nachlässt, wann immer das auch sein wird.“
„Wie alt sin’se?“
„Zweiundzwanzig.“, antworte ich schwach-stöhnender, als ich eigentlich wollte.
„Da sagt dorr Rüggng aaorr was annor’s“
Zum Glück verkneift er sich ein „Hö-hö.“, denke ich augenrollend.
„Hm, was sagt er denn, wie alt ich bin?“
„Fümmsechzch. Örgndweor Rheuma innor Familje?“
„Nicht, dass ich wüsste. Aber ich hatte als Kind mal einen ziemlich schweren Fahrradunf-“
„V‘leicht is’je Morrbus Bächtorreff. Wior mach’n örstma Rönnchnaufnahm, dann guggme nochma.“
Juhu! Röntgen! Zu blöd nur, dass er keine entsprechende Ausrüstung in seiner Praxis hat. Die Radiologie, zu der ich darf, befindet sich im Krankenhaus, am anderen Ende der Stadt. So ein Spaziergang, zu Fuß, das tut mir bestimmt gut.
Bevor die Röntgenbilder bei Herrn Dr. Rücken sind, muss ich wieder zu Frau Dr. Doktor. Die Dienstunfähigkeitsbescheinigung (man muss die deutsche Sprache einfach lieben, oder?) ist in der Zwischenzeit abgelaufen und… Toll! Frau Dr. Doktor hat Urlaub! Wo soll ich denn da jetzt hin?! Ah, ein Zettel an der Tür verrät: Vertretung macht Frau Dr. VertretungsDoktor! Hätte ich auch gleich wissen können.
Frau Dr. VertretungsDoktor hat ihre Praxis in einer Villa direkt neben anderen Villen. Ich freue mich sehr, dass diese Gegend noch weiter von meiner Wohnung entfernt ist. Für meinen Rücken ist es, gelinde gesagt, intensiv, zumindest sagen das die Schmerzrezeptoren, aber was soll’s. Das Wartezimmer ist zum Glück kein Open Mic für Omma Almuts Krankengeschichte und auch die Hintergrundmusik unterscheidet sich signifikant von dem, was einem in anderen Praxen ins Ohr gepresst wird. Bis heute bin ich aber unschlüssig, ob ich den aus den Lautsprechern triefenden Sweetness-Nebel irgendwelcher Esoterik-CDs wirklich besser finde.
Frau Dr. VertretungsDoktor macht keinen Hehl daraus, dass ich keine Rückenschmerzen haben könne, schreibt mir aber zu Selbstbehandlung ein Körnerkissen auf. Ein verkacktes Körnerkissen! Ich habe bis heute keine Mikrowelle oder irgendetwas, um ein Körnerkissen (!) aufzuwärmen. Was also soll ich bitte mit ei.nem KÖR.NER.KIS.SEN?!
Ich berichte ihr von meinen Abenteuern mit Herrn Dr. Rücken und den Wanderungen durch Stinkytown und… Frau Dr. VertretungsDoktor möchte mir, welch Überraschung, tatsächlich eine „Dienstfähig mit Einschränkungen!“-Bescheinigung ausstellen!
Ich bemühe mich erfolgreich, nicht auszuflippen, kann mir aber ein Augenrollen nicht verkneifen. So ruhig wie mir eben möglich versuche ich ihr zu erklären, dass das meine Einsatzstelle nicht akzeptiert, dass die nur fit oder nicht fit, ganz oder gar nicht kennen.
Das erscheint Frau Dr. VertretungsDoktor doch recht zweifelhaft. Während ich auf ihr Geheiß im Wartezimmer sitze und überlege, wie ich den auditiven Yogi-Tee wieder aus meinen Ohren bekomme, der da von „Vera Blumenkranz und ihren Vorgarten-Angels“ hineingeträufelt wurde, telefoniert Frau Dr. VertretungsDoktor fleißig. Sie ruft bei Frau Personalchefin an, beim Bundesamt für den Zivildienst in Erfurt, nochmal bei Frau Personalchefin, sie legt sich richtig ins Zeug, um mir die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Und sie hat Erfolg!
Mit dem Gesichtsausdruck des Sieges und der Gewissheit, mir so richtig einen reinzuwürgen, teilt sie mir mit, dass ich eine Vorladung zur zuständigen Amtsärztin, Frau Dr. AmtsDoktor, bekommen würde. Ein Schreiben des Bundesamtes für den Zivildienst, so richtig hochoffiziell, mit der Post käme das. Dann händigt sie mir noch zwei Zettel aus. Der eine ist die aktuelle Dienstunfähigkeitsbescheinigung, die eine Auflage, eine Anweisung des Bundesamtes enthält: Bis zu dem anstehenden Termin bei Frau Dr. AmtsDoktor muss ich mich einmal pro Tag persönlich in der Heimverwaltung melden. Ja genau, zu Fuß dorthin gehen und sagen „Da bin ich.“ Und dann… Ja, dann darf ich wieder nach Hause gehen.
Der zweite Zettel ist ein Rezept. Für ein Körnerkissen.
AAAAAAARRRGH!

Fortsetzung folgt…
© 2021 albert sadebeck
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