previously on AAAAAAARRRGH!
„Das aus heutiger Sicht wie Mittelalter anmutende Jahr 1996 lässt mir keine Wahl, ich muss zu Fuß zurück zu Frau Dr. Doktor, wogegen mein Rücken mit jedem Schritt heftiger protestiert.“
„Mit dem Gesichtsausdruck des Sieges und der Gewissheit, mir so richtig einen reinzuwürgen, teilt sie mir mit, dass ich eine Vorladung zur zuständigen Amtsärztin, Frau Dr. AmtsDoktor, bekommen würde.“
and now… the conclusion!
AAAAAAARRRGH! – Teil 7
Was sich anfühlt wie drei Monate, dauert in Wirklichkeit nur drei Wochen – das Warten auf den angeordneten Termin bei Frau Dr. AmtsDoktor. Jeden Tag schleiche ich zur Heimverwaltung, auf dass sie sehen: Ich bin nicht verreist, ich genieße den Zustand nicht, ich bin kein Simulant. Außer am Wochenende, da darf ich tatsächlich zuhause bleiben.
Nun sitze ich also (mal wieder) in einem Wartezimmer und bin schon ganz gespannt, was mir heute wieder vorgeworfen wird. Denn eines ist klar, ich wurde nicht zu Frau Dr. AmtsDoktor beordert, weil sie besondere Kompetenzen im Diagnostizieren von Rückenbeschwerden hat. Nein, die mir wenig subtil vermittelte Botschaft lautet:
Wir glauben Dir kein Wort, Du Drückeberger!
Als Zivildienstleistender hat man, trotz einiger Freiheiten wie Heimschlafrecht und prinzipiell freier Arztwahl, dennoch gewisse Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte. Ein Beispiel: Die freie Arztwahl kann aufgehoben werden, wenn das Bundesamt für den Zivildienst das für nötig hält. So komme ich also zu Frau Dr. AmtsDoktor. Nein, das stimmt nicht ganz. Genau genommen komme ich mit der Bahn, ich korrigiere – mit der Eisenbahn zu Frau Dr. AmtsDoktor. Sie bevorzugt es, nicht in Stinkytown, sondern in einer noch kleineren Stadt in der Nähe zu residieren. Und da kommt man ohne Auto, welches ich in Ermangelung einer Fahrerlaubnis sowieso nicht fahren dürfte, in einer angemessenen Zeitspanne nur mit der Eisenbahn hin. EI.SEN.BAHN. Diese ollen Rumpelwagen mit der charmanten Aufschrift „Deutsche Reichsbahn“, Wahnsinn! Nicht mal für eine Umbenennung der Bahn hat die Wirtschaftsleistung der erst ein paar Jahre zuvor durch schulterzuckende Selbstauflösung von der Landkarte verschwundenen DDR gereicht.
Im Prinzip macht Frau Dr. AmtsDoktor auch nichts anderes als Herr Dr. Rücken, nämlich irgendwie an der Wirbelsäule rumdrücken und mit bloßen Händen zwar etwas zu erahnen, aber eben nicht genau definieren zu können. Ihrer Expertise zufolge habe ich höchstens eine Blockade an Wirbel XY-Trallala, die sie mit wohlgeübten Handgriffen zu lösen versucht. Ich werde also nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich zusammengefaltet wie in einem Origamikurs, was nach der… Entfaltung zu meiner Überraschung gar nicht so sehr viel Linderung bringt. Frau Dr. AmtsDoktor lässt sich nicht beirren und mich mit dem Satz „Ich denke, dass Sie simulieren.“ wissen, dass sie denkt, ich, ähm… würde simulieren. Doch das ist längst nicht alles, was Frau Dr. AmtsDoktor so auf Lager hat. Man muss immerhin bedenken, dass ihre besondere Stellung als Frau Dr. AmtsDoktor bedeutet, dass sie Untersuchungen anordnen darf. Was sie auch tut.
Aus heutiger Sicht wenig überraschend, im Herbst 1996 für mich aber schon erschreckend plötzlich, sitze ich nun also dem hochsympathischen Herrn Dr. KopfDoktor gegenüber. Die Gnade des Vergessens hat die meisten der mir gestellten Fragen aus meinem Gedächtnis entfernt. Es ist auch gar nicht so wichtig, was er im Detail abfragt, denn sein Auftrag lautet ja herauszufinden, ob man mir mit ärztlichem Gutachten und von Amts wegen Drückebergerei nachweisen könne. Meine Nachfragen, was er denn da notiere, ignoriert er mit einer fast schon beeindruckenden Sturheit. Das ganze Prozedere erinnert in seiner Rücksichtslosigkeit an die besonders schönen Momente bei der Musterung. Nur dass Herr Dr. KopfDoktor nicht an meinem Körper, sondern in meinem Kopf rumzufummeln versucht, als sei dieser die Wühlkiste beim Fleischer.
Das eigentlich gemeine ist aber, ich habe schon damals eine Ahnung, dass mein Kopf eine Behandlung durch Expert:innen eventuell vertragen könnte. Also, irgendwann mal oder so… Doch hier merke ich ganz genau, dass ich keine Hilfe bekommen soll und werde. Es geht nur darum, mich zu analysieren und kategorisieren.
Die Frage nach meinem Vater blocke ich dann doch entschieden ab. Ich habe einfach keine Lust, mit Herrn Dr. KopfDoktor über irgendetwas zu reden. Und schon gar nicht darüber, dass ich aus Gründen seit nun schon zweieinhalb Jahren (es sollten am Ende sogar vier Jahre werden) kein Wort mit meinem Vater gewechselt habe. Es geht ihn nichts an. Ich habe ihn nicht in meinen Kopf eingeladen, er hat da nichts zu suchen, er soll end.LICH. DIE. KLA.PPE. HAL.TENN!
Vermutlich wollen sie mich quälen. Zum Hohn darf ich nämlich den verschlossenen Umschlag mit den Notizen, Analysen, Kategorisierungen, whatever… ich darf den KopfSalat (ha!) also persönlich von Herrn Dr. KopfDoktor zu Frau Dr. AmtsDoktor tragen. Und natürlich darf ich als einziger nicht wissen, was da drinsteht!
Bevor ich den bedeutungsschwangeren Umschlag bei Frau Dr. AmtsDoktor abliefern kann/soll/muss, darf ich nochmal zu Herrn Dr. Rücken. Offenbar gibt es neue Erkenntnisse aus den Röntgenaufnahmen. Oder auch nicht. Nachdem Herr Dr. Rücken mir beim letzten Mal die Wirbelsäule eines Fünfundsechzigjährigen attestierte, erklärt er nun: Auf den Aufnahmen ist dafür keine Ursache zu erkennen. Seine Schlussfolgerung:
„Herr Soadöbäck, Sie hamm keene Rüggngschmärrzn.“
„Ähm, na ja. Also… ich hab die aber schon und ich wollte Ihnen ja vor drei Wochen schon das mit dem Fahrradunf-“
„Herr Soadöbäck, Sie hamm keene Rüggngschmärrzn.“
Gesichtspause™
Fassen wir also kurz zusammen: Ich habe Rückenschmerzen, die, so vermute ich, ursächlich mit einem Fahrradunfall in meiner Kindheit zusammenhängen könnten. Nicht das einzige Trauma aus dieser Zeit, aber wohl das für diesen konkreten Fall bedeutsamste. Möglicherweise werden die Schmerzen durch irgendein Psychodingens verstärkt, man weiß es halt nicht.
Frau Dr. Doktor glaubt mir nicht, dass ich Rückenschmerzen habe.
Frau Dr. VertretungsDoktor glaubt, dass wenn ich Rückenschmerzen hätte, diese mit einem Körnerkissen ausreichend behandelt wären.
Herr Dr. Rücken stellt zwar fest, dass mein Rücken zu alt für mein Alter ist und deshalb schmerzt, vergisst das aber ganz schnell wieder und meint, damit seien meine Beschwerden nicht existent.
Herr Dr. KopfDoktor denkt/analysiert/kategorisiert und verfasst ein Dossier über meinen Geisteszustand, das ich nicht einsehen darf. Was ich nicht einsehe.
Frau Dr. AmtsDoktor hat mir ja schon auf den Kopf zu gesagt, dass sie mich für einen Simulant hält.
Und nun darf ich also mit diesen ermutigenden Ergebnissen in der Tasche zu Frau Dr. AmtsDoktor fahren, mit der Eisenbahn (!), damit diese mir die volle Diensttauglichkeit bescheinigt. Morgen also werde ich mit einem Rücken, durch den gerade ein Pflug gezerrt zu werden scheint, zurück ins Pflegeheim gehen dürfen. Schwester Dingens und Schwester Dödel werden sich sicher freuen, den DrückebergerZivi endlich wieder im Dienstplan haben zu müssen. Und der Zivi schiebt Panik davor, mit einer der Ommas zu Boden zu donnern, weil er sie nicht halten kann, während er ihr beim Aufstehen, auf den Schieber, beim Gang zur Dusche helfen soll, sie stützen soll.
„AAAAAAARRRGH!”, möchte ich schreien, allein mir fehlt die Kraft.
„So, Herr Sadebeck. Ich habe mir Ihren Fall noch einmal genauer angeschaut. Und ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“
Mit allem habe ich in diesem Sprechzimmer gerechnet, aber nicht damit, dass sich Frau Dr. AmtsDoktor bei mir entschuldigen würde!
„Herr Sadebeck?“
Ich realisiere, dass mein debil-ungläubiger Gesichtsausdruck einer Korrektur bedarf und formuliere in folgerichtiger Eloquenz das, was mein Gesicht schon zu sagen versuchte.
„Hng?“
„Es tut mir leid, Herr Sadebeck. Ich hab Sie da falsch eingeschätzt. Ein Simulant sind Sie nicht. Ich werde Ihnen nachträglich die Dienstuntauglichkeit aus medizinischen Gründen bescheinigen und beantrage Ihre vorzeitige Entlassung. Die Genehmigung ist eigentlich nur eine Formsache. Der Bescheid sollte in spätestens drei Wochen da sein. Bis dahin schreibe ich Sie dienstuntauglich krank.“
„Hng.“
„Und nochmal, Herr Sadebeck, ich entschuldige mich für meine Fehleinschätzung. Auf Wiedersehen und alles Gute für Sie!“
„Hng? Äääh, ja… danke. Für Sie auch… Wiedersehen, Frau… Dr. AmtsDoktor…“
Noch immer ungläubig verlasse ich das Sprechzimmer und hinke Richtung Bahnhof. Hat die Frau mich tatsächlich doch noch ernst genommen? Und was steht in dem Dossier von Herrn Dr. KopfDoktor? Werden meine Rückenschmerzen jemals wieder verschwinden? Ist das das Ende dieses Mehrteilers? Die Antworten auf diese Fragen bekommt Ihr… jetzt!
Ja.
Mir egal.
Nein.
Ja.

© 2021 albert sadebeck
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