Ich hätte sterben können.
Wow. Tag der Deutschen Einheit und das fällt mir als erstes dazu ein? War vielleicht doch keine gute Idee, in den Untiefen meiner Erinnerungen herumzukramen.
Wobei, gekramt habe ich gar nicht. Der Gedanke poppte einfach wie so ein unerwünschtes Werbebanner auf, als ich feststellte „Heute ist Tag der Erinnerungen Deutschen Einheit“.
Was für ein Freud’scher Vertipper!
„Heute ist Tag der Erinnerungen Deutschen Einheit“
Ok, jetzt über die deutsche Erinnerungskultur nachzudenken, übersteigt mein aktuelles Energielevel um ein Vielfaches. Also zurück zum Anfang. „Ich hätte sterben können.“
Müsste es aus heutiger Sicht nicht „Ich hätte gestorben sein können.“ heißen? Ganz sicher bin ich mir nicht und vielleicht ist dieser Gedanke auch nur eine dieser Nebelkerzen, die ich laut Frau Dr. Kopfdoktor™ immer mal wieder werfe, um mich nicht mit der eigentlich gerade wichtigen Frage beschäftigen zu müssen. Und wem das hier zu dark zu werden droht, der:die kann ja unten in der Kommentarspalte (ist es bei dieser Anordnung in untereinanderliegenden Zeilen eigentlich korrekt, von Kommentarspalte zu sprechen?) darüber diskutieren, was die semantischen Differenzen zwischen den Sätzen
„Ich hätte sterben können.“
und
„Ich hätte gestorben sein können.“
und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sind. Der Rest…
folgt mir einfach weiter in die Darkness dieses Sonntagmorgens, deren Ausmaß auch ich noch lange nicht überblicken kann.
03/10/1990. Genauer gesagt die Nacht vom 02/10/1990 auf den 03/10/1990. Ich bin mit einigen Leuten aus meiner Schule und meiner ersten Freundin (❤) auf einer dieser Radio-Partys, die uns (in wenigen Stunden ehemalige werdende) DDR-Bürgerinnen und Bürger vor den Latz geknallt wurden, damit wir uns jetzt endlich mal freuen können. Zum Freuen war einigen von uns knapp ein Jahr nach der Wende nur bedingt zumute, zeichneten sich allmählich doch die hässlichen Umrisse des Kapitalismus ab, die das Bild hiesiger demokratischer Umwälzungen verzerren würden. Aber hey, Werner Reinke ist mit hr3 zur Feier des Tages in den Osten gekommen und moderiert gekonnt durch einen Diskoabend im hässlichsten Partyzelt der Welt.
Behauptet zumindest meine Erinnerung. Ihre Angaben sind aber mit Vorsicht zu genießen, denn auf die Frage nach gespielten Songs kommt nur: Schweigen.
Ich weiß aber noch ziemlich genau, dass wir uns in der letzten Bierbankreihe dieses 80 Millionen Quadratkilometer hohen, ne… breiten, ne… ach egal. Jedenfalls saßen wir dahinten irgendwo an Bierbänken und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wurde einer aus der Gruppe nach vorne zum Bierstand geschickt, um uns mit Nachschub zu versorgen. Yep, einer. Die Damen in der Runde wurden selbstverständlich bedient, immerhin waren wir erst 16, zumindest einige von uns, und wir Jungs sahen entsprechend pubertär verpickelt (verpixelt wäre nicer gewesen) und/oder lala-ohrig aus, was wir wiederum mit „Ich lad Dich ein.“-Gesten zu kompensieren versuchten.
Und vorne auf der Bühne Werner Reinke! Leute, der war aus’m Westen! Und ‘ne richtige Berühmtheit. Der hat die ganzen Topacts im Radio angesagt und jetzt war der auf einmal hier, im Osten! Und wir waren auch da! Deutsche Einheit, Du kannst kommen, yaaay!
Hm, gerade wird mir bewusst, wie absurd das gesamte Szenario eigentlich war. Stellt Euch das doch mal in real (bitte „riehl“ aussprechen, danke) vor: Ich, bei sozialer-Interaktion-mit-mehr-als-drei-Leuten-gleichzeitig, dazu laute Musik und noch ein paar hundert andere Leute. Außerdem: Ich, bei sozialer-Interaktion-mit-mehr-als-drei-Leuten-gleichzeitig, die ich erst seit knapp vier Wochen aus der Schule (!) kannte! Außerdem außerdem, ich mit Freundin! (❤)
„Marrijscharunnor!“
Vermutlich ist es nicht unklug, dem verlallten Genuschel irgendeiner dahergelaufenen Dillgurke keine allzu intensive Beachtung zu schenken. Oder doch? Es gibt unter rumpöbelnden Suffköppen nach meiner Beobachtung zwei Typen.
Typ 1 ist so besoffen, dass er unabhängig von seinem mitgebrachten Aggressionspotential bei Nichtbeachtung seiner Pöbeleien relativ schnell das Interesse verliert. Einfach deshalb, weil er nach anderthalb Minuten schon wieder vergessen hat, was gerade los war.
Typ 2 ist genauso besoffen, aber fühlt sich bei Nichtbeachtung genauso getriggert, als würde man ihm widersprechen. Eine Konfrontation ist somit höchstens durch Flucht zu vermeiden.
Jetzt war ich doch aber mit Freundin (❤) und anderen Freundinnen und Freunden da. Da konnte ich aus mehreren Gründen nicht einfach fliehen. Obendrein hatte ich noch nicht verstanden, was das Problem von Mike war. Es könnte auch ein Ronny gewesen sein… Ja, ich denke es war ein Ronny.
Weil ich nicht sofort so reagierte, wie Ronny sich das wünschte, gab er mir immerhin noch eine zweite Chance. Vielleicht dachte er, ich hätte ihn aufgrund der lärmenden Party nicht richtig verstanden.
„Ischhasacht, Duuuh… sollsisch darunnormachn!“
Meine vom verantwortungsvoll mäßigen Alkoholkonsum nur minimal und auch nur in ihrem Tempo beeinträchtigten analytischen Skills erfassten nun vollends das Geschehen. Ronny störte sich daran, dass wir auf den Tischen saßen und unsere Füße auf den Sitzbänken aufstützten, um wenigstens ein bisschen was von dem sehen zu können, was vorne auf der Bühne und der davor gelegenen Tanzfläche passierte. Ronnys Bemühen um die Sauberkeit der Bierzeltgarnituren war in Anbetracht überall umgeworfener Aschenbecher, herumliegender Kippen und hektoliterweise verschütteter Getränke ein hoffnungsloses Unterfangen. Eventuell machte ihn gerade das so aggro. Oder halt die Tatsache, dass wir Spaß zu haben schienen und uns mochten. Ronny, Du alter Miesepeter!
Neben meinen jugendlich schnellen Analysefähigkeiten verfügte ich zum Glück (oder Unglück?) auch über sehr gute Antennen, um die Frage „Ist es Typ 2?“ unmittelbar mit „Ja!“ beantworten zu können. Ich hatte allerdings nicht auf dem Schirm, dass Ronny derart leicht zu triggern war. Während ich noch dachte, das ginge noch zwei Sätze hin und her und dann merken die anderen aus meiner Truppe, die wegen des Lärms drum rum noch nichts geschnallt hatten, dass es hier gerade brenzlig wird, und stünden mir zur Seite, natürlich mit dem Ziel einer gewaltfreien Lösung des Konfl-
Brrrsch!
Ronny, so geht das nicht! Man haut nicht einfach drauf los, es gibt Regeln. Bei einer richtigen Klopperei muss man mindestens drei Runden Beleidigungen austauschen und sich mit zwei-bis-vier albern aussehenden, weil besoffen ausgeführten Boxschritten in Position bringen. Tänzeln ist das Motto, Ronny, tänzeln!
Aber Ronny hatte einfach zugeschlagen. So richtig mit Faust eins aufs Maul.
Wollte er zumindest. Es kam aber ganz anders.
Meine Reaktion war doch schneller, als Ronny vermutet haben muss, weshalb Ronnys rechte Faust natürlich nicht mein Gesicht traf. Und eigentlich hätte mich Ronnys Faust nach meinem Ausfallschritt mit Drehung (boah, war ich damals noch sportlich!) überhaupt nicht treffen dürfen, wäre…
Ja, wäre Ronny nicht derart trullig aka besoffen gewesen, dass er über seine eigenen Beine stolpert und seine gottverdammte Faust statt auf ein Luftloch mit voller Wucht auf meinen Kehlkopf trifft!
Black
Eine Sekunde später öffne ich wieder die Augen. Der Lärm ist ungebrochen, aber irgendwie sieht alles komisch aus. Seltsam verbogene Körper spielen mit ihren Gesichtern Jo-Jo. Oder doch nicht? Nein, es sind Menschen, die sich zu mir herunterbeugen. Die Logik gebietet, dass ich mich auf dem Boden befinden muss. Ich möchte aufstehen, aber ich habe keine Kraft. Na klar, ich atme ja auch nicht. Warum atme ich nicht, warum? Atme doch mal! Geht nicht. Doch, probier’s! Ne, geht immer noch nicht. Warum denn nicht? Keine Ahnung. Könnte an dem Holzklotz liegen, der mir im Hals zu stecken scheint. Du musst atmen! Du musst atmen, sonst stirbst Du! Du stirbst! Du stirbst! DU STIRBST!!!
Ein Röcheln, als würde jemand seine Lunge auskotzen, ein Pfeifen und Rasseln, aber immerhin… ich bekomme wieder etwas Luft. Nicht viel, nur so viel, dass der Gedanke schwindet, ausgerechnet bei einer verkackten Party von Ronny den Larynx offline gestellt zu bekommen.
Meine Ärztin Frau Dr. Doktor (Genau, die, die mir sechs Jahre später meine Rückenschmerzen nicht geglaubt haben werden wird.) meinte lapidar „Schwellung, Glück gehabt, geht von alleine weg. In ein paar Wochen.“
Ich hätte sterben können, kein Witz. Bin ich aber nicht, auch wenn meine Stimme mehrere Wochen wie die eines Orks klang. Meine Freundin (❤) hatte da ‘ne andere Meinung.
„Ich finde, es klingt irgendwie sexy. ^^“

© 2021 albert sadebeck
Kommentar verfassen